Für den  Podcast "gestern ist jetzt" - Familiengeschichte im Nationalsozialismus wurde ein Interview mit mit geführt. Hier ist der Link:

 

 

http://gesternistjetzt.de/page/6/

 

 

Gestern ist jetzt – Gestern war Jetzt

 

In einem Vortrag über systemische Familiendynamiken berichtete Dr. Friedrich Ingwersen 1996 in einer Fallgeschichte über einen unbekannten, verschwiegenen Großvater. Mir rollten die Tränen. Das hatte etwas mit mir zu tun – wusste ich. Ich wusste: Ich wusste so gut wie nichts über den jüdischen Vater meiner Mutter. In der Folge bekam meine Suche nach Heilung weitere wichtige Orientierung.

 

2015, in einem Vortrag über ein bevorstehendes Oratorium „Israel Shalom“, sagte der Komponist in der Vorstellung, er käme aus Wiesbaden, der Stadt, in der mein jüdischer Großvater mit seiner Familie gelebt hatte. Ein Vibrieren ging durch meinen Körper. Ich wusste, das hat Bedeutung. In der Folge kamen in kurzer Zeit auf schicksalhafte Weise eine Reihe von Informationen in mein Leben, die einen emotionalen Prozess in Gang setzten, der mich sehr forderte: Gestern war Jetzt. Alle wesentlichen Fragen meines Lebens fanden eine Antwort. Vor allem: Wer bin ich? Warum, wozu?

 

Ich hatte mich auszusöhnen und zu integrieren, dass in meinem Familiensystem schreckliches Leid, brutale Traumatisierung und viele sehr unterschiedliche Kompetenzen, sowie auch schließlich schreckliche Schuld, Böses vorhanden war. Oft nebeneinander in einer Person.

 

Ich wollte immer nur das Gute, hatte mich christlich, sozial, politisch engagiert. Die fehlende Integration von Aggression und: auch dem Bösen, hatte mich schwach bleiben und scheitern lassen – entgegen der Ressourcen meiner familiären Wurzeln.

 

Erst Psychotherapie und Homöopathie hatten mich über die Jahre in ein stabiles und zunehmend erfülltes und erfolgreiches Leben geführt – bei aller Verletzlichkeit und äußeren Bescheidenheit.

 

2015 lernte ich schließlich, meine Wirklichkeit zu schützen, böse zu werden und meine Aggression neu zu integrieren. Um den Preis, dass mein altes Leben wegbrach und ich mir ein neues aufbauen musste. Ich blicke heute froh, dankbar und glücklich zurück.

 

Auch auf meine familiären Wurzeln mit allen, die dazugehören:

 

Meine Mutter, die als Halbjüdin mit früh erfahrener Verachtung durch ihre Mutter erst spät, als angehende Bezirksführerin des BDM erfuhr, dass sie Halbjüdin ist und nur durch Schläue und schicksalhafte Hilfe ihres Onkels Rudi (Reichsredner und er soll auch Reden von Goebbels und Hitler geschrieben haben) und Baldur von Schirach (Reichsjugendführer der NSDAP) Deutschland entkommen ist und den Krieg in Finnland überleben konnte. Ich trug ihre abgespaltene Trauer in mir und war unbewusst identifiziert mit ihrem jüdischen Halbbruder, der als einziger ihrer jüdischen Geschwister in der Shoah umkam. Er wurde als Flüchtling von der SS verhaftet und kam noch am gleichen Tag auf oder nach der Deportation nach Auschwitz ums Leben. So wie seine drei Kinder (11J., 7J., 5J., verst. in Auschwitz und Szemno). Sie alle haben heute einen Platz in meinem Herzen. Ich trauerte und wusste nun um sie.

 

Mein Vater lebte als einziger Überlebender eines Panzerabschusses mit entsetzlichen Brandverletzungen im Gesicht und an den Händen. Wer ihn das erste Mal sah, erschrak. Erst 2015 begriff ich wirklich, was das für ihn bedeutet haben muss. Und söhnte mich noch einmal auf eine tiefe Weise mit ihm aus und fand zu der Würdigung, die er verdient, trotz der Wunden, die er bei mir und meinen Schwestern geschlagen hat.

 

Meine Großmutter mütterlicherseits hatte ich immer nur als die nicht zu begreifende Mutter meiner Mutter gesehen. Sie hatte das Leben meiner Mutter bis zuletzt als unwert bezeichnet - neben der Tatsache, dass sie ihr schließlich doch einen Platz in ihrem Leben gab.  Durch die Verheimlichung der jüdischen Herkunft meiner Mutter hatte sie in Kauf genommen, dass meine Mutter in das KZ gekommen wäre, hätte ihr Liebhaber nicht mit meiner Mutter geredet, sie gerade noch rechtzeitig gewarnt. Und es gab noch viel mehr an Boshaftem gegenüber meiner Mutter. Meine Großmutter war als 20jähriges Kindermädchen vom zunächst bewunderten jüdischen Kaufmann und Dienstherrn geschwängert worden. Er verleugnete jedoch, sie wurde als Lügnerin beschimpft und aus dem Haus geworfen und landete schließlich verarmt und auch von der eigenen Familie als ledige Mutter abgelehnt, einsam in einem Zimmer in Frankfurt am Main. Sie musste sich mit Näharbeiten notdürftig über Wasser halten. Und das ihr! Der Tochter aus besserem Hause. (Stief-) Vater Lokomotivführer, Tante eine Gräfin Scapinelli, ausgebildet als Kindergärtnerin bei den feinen Englischen Fräulein, die Familie befreundet mit dem berühmten Maler Max Slevogt, bei dem sie wiederholt zu Ferien war. Und vor allem: sie war gerade noch Kindermädchen in einem reichen, jüdischen Haushalt mitten im vornehmen Wiesbaden. Welch ein Trauma! Ist es da nicht nachvollziehbar, dass aus ihrem ohnmächtigen Schmerz ein Judenhass entstand, der sich in der Abwertung meiner Mutter, sowie in Propagandatätigkeit für den Nationalsozialismus entlud?

 

Schließlich war sie auch gebunden an ihre Familie, die sie schließlich wieder aufnahm. Der offizielle Vater, NSDAP Mitglied mit dreistelliger Mitgliedsnummer und vertraut mit hochrangigen Nazigrößen. Und schließlich ihr jüngster Bruder Rudi Graber: Hat er sie nicht schließlich gar „rächen“ wollen? Als Reichsredner, vielleicht (nach Erzählungen) gar Reichseinsatzleiter der Reichsrednerorganisation der NSDAP im Propagandaministerium und Redenschreiber für Goebbels und Hitler?

 

Wie gut, dass es auch „unschuldige“, bäuerliche Wurzeln in meiner Familie gab: Meine liebe Großmutter väterlicherseits, die als „Heuerlingsmagd“ nur Arbeit kannte. Na ja, der Vater meines Vaters war der Bauer, nicht der Ehemann… Aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls gab es hier sehr heilsame Wurzeln und Eigenschaften, die auch in mir leben und mir Einfachheit, Erdung und Glück geben bei all dem Belastenden und der Fülle der „besseren Gesellschaft“ in meiner Familie.

Und es gab noch mehr interessante Menschen in meinem Stammbaum. Für mich war es wichtig, aber hier reicht es vielleicht so weit.

 
 

Heute weiß ich: Heilung ist Integration. Heilung ist ganz werden. Und dazu gehört, sich auszusöhnen mit allem was zu mir gehört. Und Abschied zu nehmen, von dem was vorbei ist und vorbei sein darf. Dann kann es gut sein und werden. Bei aller Begrenzung, die zum Leben dazugehört und die es bedarf, damit Frieden einkehren kann. Beim Einzelnen, wie in der Gesellschaft.

 

 

Wir alle sind frei innerhalb von Grenzen. Und wir können uns zusätzliche Freiheit dadurch verschaffen, dass wir uns diese bewusst machen.

 

(Pierre Bourdieu)

 

 

PS. (Ergänzung August 2022)

 

 "Wenn wir uns wehren oder weigern, Zugehöriges anzuerkennen, werden wir manchmal durch eine Krankheit oder Symptomatik an das von uns Ausgegrenzte erinnert." (Aus: "Auch wenn es mich das Leben kostet", Stefan Hausner)

Ich würde heute ergänzen, durch eine Symptomatik können wir in einem Prozess der Heilung auch auf Ausgegrenztes und Ung(b)ewusstes stoßen, das integriert sein will.

Gelingt es, kommt neue Fülle in das Leben - wir werden "heil". Das durfte ich in einem nicht einfachen Prozess erleben.