Presseartikel in der neuen Osnabrücker Zeitung 2015

 

https://www.noz.de/lokales/bad-essen/artikel/familienmitglieder-gefunden-das-wunder-von-bad-essen-22584246

 

 

Spurensuche und Vergangenheitsbewältigung

 

 Shalom Israel führte Jürgen Behring zu seinen Wurzeln

 

 

Linne. Ein Konzertbesuch mit Folgen: Das Oratorium „Shalom Israel“ führte Jürgen Behring auf die Spur seiner Vorfahren – und zur Bewältigung lange zurückliegender Verletzungen.

 

 Als der Bad Essener Nikolaichor sein Konzert „Shalom Israel“ ankündigte, musste Jürgen Behring nicht lange überlegen: „Ein Oratorium über die Geschichte Israels? Das muss ich kennenlernen, denn es bietet mir die Möglichkeit, etwas über den Geist Israels und die Geschichte des Judentums zu erfahren“, dachte er sich. Und als er erfuhr, dass es am tags zuvor, am 8. Mai, schon einen Einführungsvortrag mit dem Komponisten des Oratoriums, Klaus Heizmann, geben sollte, meldete er sich auch dafür an – nicht ahnend, was dadurch für ihn ins Rollen kommen sollte.

 

Denn: Behring ist der Enkel eines jüdischen Kaufmanns aus Wiesbaden, über den er allerdings nicht viel mehr wusste, als dass dieser recht wohlhabend, verheiratet und Vater zweier oder mehr ehelicher Kinder war, und dass aus dessen außerehelicher Begegnung mit dem Kindermädchen, Behrings 1898 geborener Großmutter, seine Mutter stammte.

 

Der Kaufmann, Bernhard Behr mit Namen, soll seinerzeit für Mutter und Kind einen teuren Heimplatz finanziert haben. Außerdem, das wusste Behring aus alten Unterlagen, hat der Kindsvater, bei offizieller Nichtanerkennung der Vaterschaft, schließlich eine Abfindung von 3000 Reichmark gezahlt – damals eine beachtliche Summe. Der Kaufmann verstarb Anfang der 1920er Jahre; seine Ehefrau, so Behrings bisherige Information, wanderte mit den gemeinsamen Kindern in die Vereinigten Staaten aus. „Nach dem Kriege hat meine Mutter einmal versucht, Kontakt zu der Familie aufzunehmen, dieser war jedoch unerwünscht“, weiß er aus Erzählungen seiner inzwischen verstorbenen Mutter.

 

Jürgen Behring, Sozialpädagoge und seit 14 Jahren als Suchttherapeut in der stationären Entwöhnungsbehandlung tätig, hat sich im Zuge der Auseinandersetzung mit seiner Geschichte im Rahmen von Psychotherapie und psychotherapeutischer Weiterbildung immer wieder mit seiner Herkunft auseinandergesetzt. „Es interessierte mich stets, was es eigentlich heißt, ,jüdisch‘ zu sein. Vor etlichen Jahren habe ich erstmals Wiesbaden besucht und versucht, Spuren zu finden – ergebnislos“, erinnert er sich.

 

Nun also Shalom Israel in Bad Essen – und der Komponist kam ausgerechnet Wiesbaden. Erinnerungen wurden wach, das Interesse war aufs Neue geweckt und so verbrachte Behring am darauffolgenden Tag, seinen 57. Geburtstag, einige Stunden mit Googlen. Bei der Suche nach „Juden in Wiesbaden“ stieß er auf die Seiten des „Aktiven Museums Spiegelgasse“ und der „Paul Lazarus-Stiftung“. Er schrieb eine Email mit einer Datenbankanfrage und erhielt schon zwei Tage später ein Personendatenblatt zur Familie seines Großvaters sowie eine Kopie aus dem Sterberegister der jüdischen Gemeinde.

 

So erfuhr er, dass der Großvater schon 1921 verstorben war und dass nicht alleFamilienmitglieder rechtzeitig in die USA ausgewandert waren: Der einzige Sohn seines Großvaters, Jürgen Behrings Onkel also, war in Frankreich gefangenen genommen, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden.

 

Mit den erhaltenen Namen der ausgewanderten Töchter aber stellte Behring sofort weitere Recherchen an. Zunächst aber musste er Dan Booth Cohen benachrichtigen, einen amerikanischen Psychologen und Experten für Familienaufstellungen. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, dem die Überlegung zugrunde liegt, psychische Erkrankungen hätten ihre Ursache in gestörten Beziehungsmustern innerhalb der Familie. Um diesen auf den Grund zu gehen, stellen Stellvertreter die Familie des Patienten als Standbild dar. Die Muster, die dabei aufgedeckt werden, entsprechen überraschende oft den Beziehungen zwischen den realen Personen.

 

Auch Behring hatte unter Cohen an einer solchen Aufstellung teilgenommen. Jetzt erhielt er von diesem den Link zu einer Todesanzeige einer anderen Tochter des Großvaters aus 2006. Und auf dieser Todesanzeige standen wiederum eine ganze Reihe weiterer Familienangehöriger.

 

Diese Informationen wiederum brachten weitere traurige Geschichten ans Licht: Auch die Tochter des in Auschwitz umgekommenen Onkels war dort Opfer des Holocaust geworden, ebenso wie ihre Geschwister, die, zunächst von französischen Nonnen versteckt, letztendlich auch von den Nazis ermordet wurden.

 

Doch Behrings Forschungen brachten auch Erfreuliches zutage: Über Facebook stieß er auf Nachfahren der in die USA ausgewanderten Familienmitglieder. Jürgen Behring hat eine neue Cousine gefunden und ist „sehr, sehr dankbar, so reich beschenkt worden zu sein“. Er nennt es, „das Wunder von Bad Essen.“

 

Denn für ihn ist es mehr als erfolgreiche Ahnenforschung. Seine besondere Herkunftssituation hat Jürgen Behring immer als belastend empfunden. Aufgrund seiner Ausbildung weiß er, dass die Ursache hierfür in erlittenen Bindungsverletzungen liegt – angefangen bei der Leugnung durch den Großvater. Bei Behring haben diese Traumata irgendwann in die stationäre Psychotherapie geführt und, damit verbunden, zu einer existenziellen Krise. Es hat ihn viel Kraft gekostet, wieder Fuß zu fassen, doch es gelang. Seit 2001 arbeitet er als Suchttherapeut, seit 2011 als solcher in der Wiehengebirgsklinik in Hüsede. Längst hat er also die Krise überwunden. Als geheilt aber sieht er sich erst seit diesem Mai, seit Shalom Israel und dem, was im Nachgang dazu geschah. „Jetzt kenne ich meine Wurzeln und weiß, welches Schicksal ich erlitten habe.“ Mit seinem „Wunder von Bad Essen“ verbindet Behring daher auch ein Anliegen: „Ich möchte vermitteln, dass Heilung nur durch Bewältigung von Traumata möglich ist.“

 

 

 

 Erschienen in der NOZ - Wittlager Kreisblatt am 03.07.2015